Wenige kennen noch das Prozedere, wenn der Herbst verging und das Haus für die kalte Jahreszeit vorbereitet wurde: früher hängte man außen vor die einfach verglasten Fenster einen zweiten kompletten Rahmen mit Fenstern ein, die der Wärmedämmung dienten. Man nannte diese Fenster Vorfenster. So kam man ohne Frostschäden im Haus über den Winter.
Eine Suche nach den letzten verbliebenen Vorfenstern als Zeugen einer vergangenen Zeit ist zeitaufwändig, lohnt aber durchaus!
Der aufmerksame Blick nach oben offenbart uns viele sehr unterschiedliche und auch besonders formschöne Fenster, die die Zeit überdauert haben …
Vorfenster waren meist zum Schieben. In vielen Städten durften sich Fenster nämlich nicht nach außen öffnen lassen, weil sie dann über die Nachbargrenze hinauslugten z. B. vom Privatgelände des Hauses hinein in städtisches Gebiet. Auch nach innen konnte man die Vorfenster nicht öffnen, da sie ja sonst außen einen enorm dicken Holzrahmen hätten haben müssen und viel kleinere Fensterflügel als die fest eingebauten Fenster, was insgesamt einen enormen Lichtverlust bedeutet hätte. Also baute man sie oft als Schiebefenster.
Meist wurde nach oben geschoben. Ich konnte nicht recherchieren, ob es auch seitlich zu schiebende Vorfenster gegeben hat. Heute sind ja kaum noch Vorfenster in den mitteleuropäischen Städten zu sehen um das zu überprüfen. Kastendoppelfenster, später die Verbundfenster und heute die Thermofenster haben die Vorfenster fast gänzlich abgelöst.
Früher erhielten viele Städte in Europa durch die vielen Vorfenster an den Häusern im Winter ein ganz gewisses Flair, welches man heute nur noch aus England oder den amerikanischen Südstaaten kennt. Dort werden in den meisten alten Häusern auch die Fenster nach oben geschoben.
Wer heute noch die Erinnerung an den jährlichen Einbau von Vorfenster hat, kann sich auch gut an das Gehangel vor dem Fenster erinnern, wo Ängste ausgestanden wurden, weil man sich mitunter mächtig hinauslehnen musste um in waghalsigen Positionen, halb aus dem Fenster hängend, die Rahmen einzuhaken in die Ösen, die im Mauerwerk eingebracht waren.
Wenn die Fenster dann eingebaut waren und der Winter kam, hatte man sich ständig mit dem Verhakeln der Schiebefenster herumzuquälen, die meist den Sommer über im trockenen Keller lagerten und nun Feuchtigkeit zogen. Durch den Temperaturumschwung arbeitete das Holz dann wieder und sie verzogen sich. Ganz winddicht waren sie auch nicht, denn der Rahmen wurde ringsum ja nicht abgedichtet.
Alles in allem waren die Vorfenster nur ein mittelmäßiger Kälteschutz und man kann froh sein, dass man jetzt weitaus bessere Fenster hat als noch vor 50 bis 100 Jahren.
Doch das Aufbringen der Vorfenster jedes Jahr im Spätherbst war eine Art familiäres Zeremoniell. Ein Ritual, welches bei jeder Familie unmissverständlich den Winter einläutete.
Die damit verbundene Heizperiode brachte jedes Jahr die Erkenntnis mit sich, dass jede Jahreszeit ein spezifisches Verhalten nach sich zog: wie man im Sommer draußen nicht ohne Sonnenhut herumlief, so konnte man im Winter eben nicht drinnen im T-Shirt bei dauerhaft 21° leben.
Da wurden dicke Pullover noch notwendigerweise getragen und man ging schon mal mit Socken und langärmligem Schlafanzug zu Bett.
Heute dreht man im Winter einfach die Heizung auf und bekommt ständig eine Erkältung, weil man der Kälte nicht auf natürliche Weise begegnet und sich ständig überhitzt und dann verkühlt.
Ich sehne mich nicht zurück nach der Zeit der Vorfenster; ich denke aber jeden Winter drüber nach, wie man den Leuten das dumme Meckern über den ach so kalten Winter und die plötzlichen Erkältungen und das Jammern über ihre ständig ach so trockene Haut wieder aus den Köpfen nehmen kann …