Derzeit tobt ein Streit durchs Ländle. Ein Streit, der unversöhnlich scheint. Zwei Parteien stehen sich gegenüber, die beide für sich das Recht auf Wahrhaftigkeit und Korrektheit in Anspruch nehmen: die Landespolitik, die nach Jahren der demokratischen und politischen Entscheidungsprozesse ein Megaprojekt beschlossen hatte, welches der Bürgerschaft im Nachhinein nicht schmeckt. Die Bürgerschaft ist die andere der beiden unversöhnlichen Parteien.
Selten in der Geschichte der Republik hat es eine derart breite Masse an Protestierern gegeben, die nicht einverstanden sind mit den demokratischen Entscheidungsprozessen der von ihnen gewählten Volksvertreter. In ihren Augen sind die Politiker die Volks-“Zertreter“, die ein Riesenprojekt wie die geplante unterirdische Verlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofes gegen die Interessen des Volkes durchsetzten sich aber stets darauf berufen, die Vertreter des Volkes zu sein …
Das Volk hatte keine Chance mehr, sich einzubringen in den Entscheidungsprozess. Was wirklich dahinter steht, ist jedem halbwegs weitsichtig denkenden Menschen klar: die Interessen der Wirtschaftsvertreter: Bahn, Lobby, Baugewerbe. Da wurden sicherlich schöne Verabredungen im Vorfeld getroffen und nun verwehrt man den vom Volk geplanten Baustopp mit dem Argument, dass man die abgeschlossenen Verträge mit den Baufirmen einhalten müsse.
Ein Stopp würde nach Aussage der Landesregierung nicht nur dem Prestige des Projektes in der Welt sondern letztlich auch dem Bürger schaden, der die Kosten der Bauverzögerung zu tragen hätte.
Unterdessen wurden Fakten geschaffen und etliche sehr alte Bäume im Stuttgarter Schlossgarten gefällt, nachdem schon der Nordflügel des baugeschichtlich erhaltenswerten alten Bahnhofsbaus abgerissen wurde- unter großem Protest tausender Stuttgarter Bürger.
Sie skandierten seit Monaten friedlich: „oben bleiben!“, jetzt ist ihr wütendes, verzweifeltes Rufen nur noch: „Lügenpack- Lügenpack!“
Sie möchten sich nicht aufschwatzen lassen, dass ein unterirdischer Bahnhof die einzige Überlebenschance für die Stadt sei. New York hat übrigens Kopfbahnhöfe, Frankfurt am Main ebenfalls. Und Frankfurt hat es dennoch geschafft zu Bankfurt zu mutieren, zum „Mainhatten“ Deutschlands. Von wirtschaftlichem Niedergang wegen des altmodischen Kopfbahnhofes keine Spur.
Bei Stuttgart 21 geht es um die Durchsetzung der Interessen einer Wirtschaftsmafia durch gnadenloses Durchziehen politischer Macht entgegen des demokratischen Widerstandes der Bürger.
Eine Regierung bemisst sich daran, ob sie in der Lage ist, eine einstmals gefällte Entscheidung gegebenenfalls auch einmal zu revidieren, wenn das Volk die Tragweite und die Konsequenzen einer von den Volksvertretern geschaffenen Faktenlage erst einmal begriffen haben. Die Verschleierungstaktik der Politik gegenüber dem Volk durch bewusst unterlassene oder gar falsche Informationen bezüglich der Bausummen oder der Statistik des tatsächlichen Bedarfs ist bekannt. Das Volk in Stuttgart fühlt sich betrogen und reagiert entsprechend wütend. Bislang war der Widerstand demokratisch: Demonstrationen verliefen hitzig aber gewaltlos.
Baden- Württembergs Regierungschef Mappus und Innenminister Rech jedoch sahen sich gezwungen, wehrlose, friedliche Schülerdemonstranten, wütende Rentner und anderen Bürgern, die Macht des Polizeiapparates entgegen zu setzen: es gab hunderte von Verletzte, ein Demonstrant hat ein Auge verloren. In den 20- Uhr Nachrichten verteidigten die beiden Minister Mappus und Rech den Einsatz mit der Begründung, die Demonstranten hätten Pflastersteine geworfen. Schon in den 22- Uhr –Nachrichten musste er es kleinlaut dementieren, angeblich hatte man ihn falsch informiert; doch da war die Lüge schon in den Köpfen der Bürger im Rest der Republik und im Ausland verbreitet.
Eine Lüge setzt sich ja bekanntermaßen schneller durch als die Wahrheit und es ist davon auszugehen, dass viele bislang mit den Stuttgart21 sympathisierenden Bürger in anderen Städten sich nun beeinflussen ließen und die Vorgehensweise der Polizei auf Geheiß der Minister akzeptieren und sogar gutheißen. Dann hat der ministeriale Lügenapparat sein Ziel erreicht und das demokratische Begehren seiner Landeskinder verraten und sie diskreditiert.
Bei dieser kleinen Demonstration im badischen Freiburg bekamen die Stuttgart21- Gegner breite Unterstützung für ihren Bürgerzorn. Freiburg ist indirekt auch betroffen durch die Neuverlegung von Bahntrassen rund um das schwäbische Problem- Projekt. Es ist aber lange schon kein Stuttgarter Problem mehr, sondern ein landesweites, seitdem auch die Kanzlerin sich stärkend hinter Mappus und das Projekt stellte. Die Landtagswahlen im März 2011 werden die Rechnung bringen für die Politik des Durchsetzens und Aussitzens ganz in Kohl’scher Manier. Der Bürger glaubt: Wahltag ist Zahltag! Die Politik weiß, dass Aussitzen Durchsetzen bedeutet. Das hat bislang immer geklappt.
Solange Deutschland keine direkte Bürgerbeteiligung mit direkter Demokratie zulässt, werden die vermeintlich demokratisch gewählten Volksvertreter immer viel Spielraum für ehrgeizige Profitprojekte haben ohne sofort abgestraft werden zu können. Selbst wenn sie ihre nächste Wahl nicht gewinnen, konnten sie doch in ihrer Amtszeit so viele zukunftssichernde Kontakte knüpfen und ihre Pensionen sichern, dass ihnen eine Abwahl letztlich vollkommen egal sein kann.
Stuttgart 21 könnte der Anbeginn einer erneut erstarkenden Bürgerbewegung für mehr direkte Demokratie sein. Die Zeit scheint endlich bereit dafür und es erscheint dringend nötig zu sein, dass die Bürger begreifen, dass Politik nicht für sie da ist sondern nur für die Wirtschaft. Viele Themen wären dann zu verhandeln, die dem Bürger schon lange nicht mehr schmecken, gäbe es wirklich eine direkte Beteiligung.
Ob sich die Politikerkaste der gnadenlosen Interessenvertreter der Wirtschaft oben halten wird, hängt derzeit leider nur zum Teil vom Volke ab. Für sie gilt jedenfalls nicht: oben bleiben! Gestern lauteten die Sprechchöre: Mappus und Rech müssen beide wech!