Kaum ein Phänomen polarisiert über Jahrzehnte und generationsübergreifend so sehr wie Graffiti. Ist es nun eine Kunstrichtung oder ist es nur „dog piss“?
Wo zieht man die Grenze zwischen vandalisierender Schmiererei und künstlerischer Ausdrucksform einer Jugendkultur? Wer kann diese Grenze ziehen? Wer setzt sich denn schon ernsthaft mit dieser Stilrichtung der Kunst auseinander (wie diese Dame hier)?
Diese Fragen ließen sich über Jahrzehnte nur mit Befindlichkeit beantworten und ein realistischer Diskurs, der zu einer einvernehmlichen Befriedung der Grabenkämpfe führen könnte, scheint in weiter Ferne.
In einigen Städten begehen die Stadtväter nun klare Wege …
Ganze Unterführungen und öde Hauswände werden den Sprayern zur Verfügung gestellt und verwandeln sich vom Betongrau ins Großstadtbunt mit erstaunlich beflügelnder Wirkung auf manchen Passanten. Hier können die Sprayer ihre „Competitions“, ihre Wettkämpfe austragen ohne gehetzt- weil kriminalisiert- unfertige Werke abzuliefern wie an den nicht freigegebenen Stellen.
Da sieht es nämlich so aus, als gehe es beim Graffiti nur ums schnelle „Platzhirschen“ und weniger um die künstlerische Leistung. Leider sind auch manche „tags“ und Bilder, die heute angesprayt wurden, morgen schon vom unmittelbaren Konkurrenten übertüncht. Das fordert heraus. Respekt gilt dem, der wirklich „Großes“ geschaffen hat. Diese Bilder halten sich oft über Monate im Stadtbild.
Dieses „freie Sprayen“, von der Stadt autorisiert, verhindert zwar nicht das weitere zerstörerische „Hundepiss“- Verhalten einiger Schmier- Sprayer, aber es lässt sich so nach und nach die Spreu vom Weizen trennen. Gut für den Diskurs.
Der Normalbürger- Passant kann allenfalls für sich entscheiden, ob er etwas schön, weil dekorativ empfindet, aber vor den meisten Bildern steht er wie das Lamm vorm Schlachter: ohnmächtig, weil unwissend.
Es lohnt sich also einmal, genauer hinzusehen und das Wagnis einer Bildinterpretation einzugehen. Man wird merken: die haben uns allerhand zu sagen und zu geben:
Sie können von einer poetischen Utopie mit einer quallenhaft-wabernden süßen Monsterwelt erzählen, die nicht erschreckend daherkommt, sondern fast wohlwollend und lieblich.
Sie können uns ihre Kritik sprayen über unseren Musikverstand, der noch jedes Monster flüchten lässt, als was wir die Sprayer bezeichnen. Sie können uns Rätsel aufgeben über junge Mädchen, die unschuldig ihr Herz verlieren, oder über Bauarbeiter, die sich im Gefängnis ihres harten Arbeits- Daseins in ihrer Fantasie Paris Hilton als Haustier halten …
Sie können witzig- sozialkritisch sein und an ihrem und unserem Ego kratzen, sie können kritisieren, dass man hier nicht skaten darf und tun es dennoch- per Bild. Sie kommentieren die politisch korrekten aber mehr als altbackenen Leitsysteme, in der nur eine Mutter das Kind an der Hand halten darf und kein Mann (Angst vor Kinderschändern?).
Oder sie erzählen schlichtweg von sich selbst: Von der Freundschaft untereinander, wo man sich stolz gegenseitig seine „books“ zeigt mit den Vorskizzen für ein nächstes Bild. Wo man die Gemeinschaft liebt, weil man etwas tut, was verbindet, auch wenn man wohl nicht immer genau weiß, was man da tut. Und sie wissen ganz genau, dass sie sich noch immer wie ein kleiner unmündiger Junge fühlen, der bei den Eltern auf dem Hintersitz im Auto sitzt, während er sich mit seinem Kumpels abspricht und schon wieder ne neue Skizze im Kopf hat.
Es lohnt sich also, sich einmal die Zeit zu nehmen und zu erleben, wie solche Bilder entstehen, wenn sie entstehen dürfen ohne Zeitdruck. Dann sieht man, dass es nämlich ein längerer Schaffensprozess ist, nach Skizzen, mit Grundierung und Vorzeichnung, mit jeder Menge Farbeimer und Spraydosen, die rangeschleppt werden müssen (daher sind die illegalen Tags oft qualitativ so mies, weil man eben nicht immer alle Farben mitschleppt, falls man erwischt wird und schnell abhauen muss).
Vielleicht schärft das die Sinne für Qualität und vielleicht stellt dann mancher Hausbesitzer seine öde Wand für gute Kunst zur Verfügung. Vielleicht verliert sich dann die Schmierfinkenwut der reinen Hundepiss- Sprayer und es kommt ein Prozess der Qualitätsfindung in Gange, der den Sprayern sehr gut zu Gesicht stünde!