Es könnte sich alles in etwa so zugetragen haben:
„Wir haben zu unserer Vorderhauswohnung noch eine Wohnung im Seitenflügel dazumieten können. Die beiden Wohnungen gehörten früher zusammen und bildeten eine hochherrschaftliche gutbürgerliche Kulisse.
Wir hatten die Erlaubnis der Hausverwaltung erhalten, die zugemauerte Türe zum Seitenflügel zur ehemaligen Dienstbotenwohnung aufzubrechen. Sie musste wohl so in den 20er Jahren zugemauert worden sein, denn die Wandbemalung erschien uns doch ziemlich „art Déco“.
Die Materialien bestätigten uns das: übelstes Rabitz- aber immerhin leicht zu durchbrechen. Mann, war das eine staubige Angelegenheit. Und zwischen den beiden Wandschichten war alles verfüllt worden mit Schutt. Wir klopften mit überschwänglicher Gewalt in Form eines schweren Vorschlaghammers die Wand in kleine Stücke und trugen Stein um Stein raus, eimerweise. Dann auf etwa der Hälfte der wand erlebten wir plötzlich eine sehr schöne Überraschung: zwischen den beiden vermauerten Wänden stand etwas aus Holz. Eine Kiste? Erstmal musste sich der ganze Staub legen und dann funzelten wir mit der Taschenlampe herunter zum Boden: es war eine Art von Regalkiste. Und sie war gefüllt mit irgendwas …
Es galt also, etwas behutsamer abzutragen- unser Vorschlaghammer musste weggestellt werden. Handarbeit war jetzt angesagt. Wir brachen die Wände von oben nach unten heraus. Da stand es: das Berliner Regal- wie wir es tauften. Prall gefüllt mit kleinen Heften: „Reclams Universal- Bibliothek“ wohl aus den 1910ern – was für ein Fund!
Sofort hatten wir Theorien zur Hand, wie das kleine Regal voller Reclamheftchen hier wohl hineingeraten sein könnte: musste ein belesener Proletarier seinen Schatz verstecken vor der Herrschaft?
Die Hefte kosteten zwar damals nur 20 Pfennige, aber ca. 250 Heftchen zusammen ergaben schon ein richtiges Vermögen. Vielleicht sollte etwas vertuscht werden damit – womöglich wurden sie mit dem Haushaltsgeld der Herrschaft gekauft. Oder hat der Maurer jemandem einen bösen Streich gespielt?
Wollte jemand der Nachwelt einen kleinen Schatz hinterlassen? Ein Zeugnis quer durch die Literaturgeschichte der Jahrhundertwende?
Es fanden sich nicht nur Belletristikklassiker im Regal, sondern auch Rechtstexte, Haushalts- und Wirtschafterinformationen und Städtebilder, also kleine Reise(ver-)führer.
Oder hatten die Hefte einfach nur ausgedient und versprachen einen guten Schallschutz als Wandfüllung?
Wir hatten eine Idee: man sollte den Nachfolgeverlage Reklam für dieses Regal begeistern und es auf Lese- Wanderschaft schicken durch Berlin und die Republik. Aus wahllos ausgewählten Heftchen sollte der Vorleser den Zuhörern das Denken der schönen Epoche mit dem bevorstehenden ersten Weltkrieg begreiflich machen.
Aus dem Projekt ist leider nüscht geworden- aber wer weiß, vielleicht findet sich doch einmal jemand, der sich der Idee annehmen möchte …“