Zugkrimi

Er musste die Stadt verlassen. Ein Freund hatte ihm eine neue Identität verschafft.
Am Hauptbahnhof lag der neue Paß versteckt in der Box eines Schnellrestaurants auf den Überwachungsmonitoren für die Zugabfertiger. Er sollte den Nachtzug nehmen. Es war noch früh am Abend. Das späte Sonnenlicht durchflutete noch immer den kathedralisch schönen Bahnhof.

Mit Wehmut stand er da und betrachtete ein letztes Mal diesen Stahlbau voller Nieten, Glas und Ruß, in dem er erst vor einem halben Jahr angekommen war um eigentlich viel länger zu bleiben. Hamburg.

Wie konnte das nur alles so schief laufen? Was in der Welt hatte er bloß getan, dass er solch ein schlechtes Karma mit sich herumtragen sollte?

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Die Ereignisse hatten sich so plötzlich überschlugen, dass er noch gar nicht wirklich begreifen konnte, warum er nun ein Gehetzter war, ein Gejagter der Bürokratie.

Die lange Zeit bis zur Abfahrt seines Zuges beunruhigte ihn. Er musste sich beschäftigen.

Er kaufte sich ein belegtes Brötchen und einen Kaffee zum Mitnehmen; damit setzte er sich auf eine Bank auf dem Bahnsteig und bereitete sich auf seinen endgültigen Abschied vor. Doch die Unruhe in ihm stieg auf:

Er hatte sich nicht richtig verabschieden können.

Er war einigen Freunden gegenüber ungerecht gewesen.

Er hatte sich nicht genug bedankt.

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Er lief zur U- Bahn. Diese herrlich düsteren Bahnhöfe mit der Schummerbeleuchtung hatten es ihm immer angetan. Hier konnte man unerkannt bleiben, sich in die Masse werfen und sich mittreiben lassen. Wieder würde die U- Bahn ihn dort hin bringen, wo er nachdenken konnte.

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Er lief an die Bahnbrücke, von der aus er immer Löcher in die Luft starrte und wunderbar nachdenken konnte, indem er den einfahrenden Güterzügen hinterher sah. Oft betrachtete er die vielen ineinander verwobenen Schienenstränge; sie schienen ihm unentknüddelbar und verworren wie sein Leben selbst. Was für eine Plattitüde, sein Leben mit dem scheinbar wirren System der Bahnschienen zu vergleichen! Kommen doch in der Regel alle Züge an ihrem Bestimmungsort an. Im Letzten Moment legt sich ein Schalter um, eine Weiche wird gestellt und die Züge fahren ins richtige Ziel!

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Seine Gedanken klärten sich merklich. Es beruhigte ihn seit jeher, einfach irgendetwas zu betrachten und sich darüber unsinnige Gedanken zu machen. Und was es alles zu betrachten gab- es bereitete ihm in diesem Moment mehr Freude als sonst: diese sonderbaren, herrlich rostigen Schaltanlagen, die mächtig- trotzigen Lager der Rollen, die dreckigen Schwellen.

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Er war wieder versöhnt und konnte den Zug besteigen. Die Fahrt war ruhig und lange- eine ganze Nacht- es war diesig und kalt, als er in dem kleinen Städtchen ankam, was nun seine neue Heimat werden sollte. Hinter ihm das Streckengewirr, ganz genauso wie in Hamburg, vor ihm ein baufälliger Bahnsteig. Und die Schwellen waren genauso dreckig wie überall.

Er würde es schaffen, sein neues Leben mit viel Mut zu beginnen …


Hommage an alle Menschen, die unverschuldet flüchten und von Neuem beginnen müssen.